Urban Heritage

Stadtforschung meets Heritage

Oevermann, Gantner & Frank

Urban Heritage Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1/2016 Themenschwerpunktheft

Auf dem Workshop Urban? Heritage wurden die Verbindungslinien zwischen Stadt- und Heritageforschung mit Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Disziplinen erörtert. Damit sollte ein Austausch über die vielfältigen Ansätze forciert und ein umfassendes Verständnis von städtischem Erbe bzw. Urban Heritage gewonnen werden. Referentinnen und Referenten aus insgesamt neun Disziplinen präsentierten ihre fachspezifischen Perspektiven auf das Schnittfeld von Stadt- und Heritageforschung. Die Vorträge orientierten sich an fünf Leitfragen, die jeweils die bestehenden Konzepte von Heritage und Stadt sowie die jeweiligen zentralen Forschungsergebnisse im Feld, offene Fragen und eine kritische Kommentierung des Forschungsstandes umfassten.

Der erste Block des Workshops beschäftigte sich mit den Perspektiven von Architektur, Kunstgeschichte und Geographie/Raumplanung auf das Schnittfeld von Stadt und Heritage. HEIKE OEVERMANN (HU Berlin) übernahm das Feld der Architektur. Für diesen Bereich stellte Oevermann fest, dass der Begriff Erbe sich vor allem auf gebautes Erbe und dessen Transformation konzentriere. Den Zusammenhang zu Stadt fasste Oevermann mit dem Satz zusammen: es gebe zwar ein Erbe ohne Stadt, aber keine Stadt ohne Erbe. Beide Konzepte seien fest miteinander verknüpft. Die Diskussion über Erbe in der Stadt werde in der Architektur, laut Oevermann, bei der Entwicklung von Entwürfen relevant. Das Verhältnis von Stadt und Erbe sei bei jeder Transformation des materiellen Raums relevant. Aktuelle Debatten würden insbesondere Rekonstruktionen oder Entwürfe von Architektur-Ikonen thematisieren. Kritisch zu betrachten seien für Oevermann die mangelnden methodischen Standards bei der Auseinandersetzung mit Geschichte und Vergangenheit in der Architektur. Für die Kunstgeschichte und Denkmalpflege sprach GABI DOLFF-BONEKÄMPER (TU Berlin). Für Dolff-Bonekämper liegt die Schlüsselkompetenz der Kunstgeschichte in der Betrachtung und im Verstehen der Formen sowie der Formbezüge von Artefakten. Stadt wird von Dolff-Bonekämper als ein Werk betrachtet, das sowohl das Gewollte als auch das Gewordene beinhaltet. Die Denkmalpflege habe zur Aufgabe, dieses gewordene Werk zu verteidigen, ohne es dabei still zu stellen. Ein explizites Konzept von Heritage vertrete die Kunstgeschichte, laut Dolff-Bonekämper, nicht. Die Rolle der Kunstgeschichte bestehe in diesem Feld darin, an ihrer Kompetenz der Formbetrachtung festzuhalten. Der Geograph ACHIM PROSSEK (HU Berlin) wies auf die vielfältigen Definitionen des Begriffs Heritage in seinem Fach hin. Diese würden sich in die Bereiche Erbe und Kultur, Erbe und Ökonomie sowie Erbe und Identität unterteilen. Städte seien in der Geographie vor allem als bauliche, ökonomische und kulturelle Systeme zu verstehen. Die Fragestellungen der Geographie/Raumplanung würden sich, laut Prossek, meist mit dem Wert, den Erbe für Stadtentwicklung hat, beschäftigen. Dementsprechend gebe es Forschungsergebnisse zu Erbe und Stadt, vor allem in der Betrachtung des Städtewettbewerbs und der Eventisierung von Stadtpolitik. Prossek betrachtete den Fokus auf Tourismus in der geographischen Heritageforschung kritisch und fragte nach Heritage jenseits des Events und einer monetären Bezifferung des Erbe-Wertes.
In der anschließenden Diskussion warf JOHANNES CRAMER (TU Berlin) die Frage auf, ob in den Disziplinen städtisches Erbe nicht zu sehr auf Einzelbauten und historische Kernstädte beschränkt sei. Bereiche der sogenannten Zwischenstadt oder Infrastruktureinrichtungen würden nicht als wertbehaftete Artefakte angesehen. Im Laufe der Debatte setzte sich die Ansicht durch, dass Wert in erster Linie durch die Betrachtenden verliehen werde. Was als Erbe gelte, werde gesellschaftlich hergestellt. Die Diskussion um Heritage entferne sich damit von den Objekten. Dabei zeigte sich die grundlegende Schwierigkeit, mit der Fülle und Komplexität von Heritagekonzepten umzugehen. Als eine mögliche gemeinsame Diskussionsgrundlage wurde vorgeschlagen, Heritage als Praktiken des Vergegenwärtigens von Vergangenheit zu verstehen.

Im zweiten Block wurde der Blick auf Stadt und Erbe in den Fächern Geschichtswissenschaft, Archäologie und europäische Ethnologie vorgestellt. ESZTER GANTNER (HU Berlin) stellte in ihrem Vortrag fest, dass die geschichtswissenschaftliche Literatur kein explizites Heritagekonzept verwende. Annäherungen würden sich lediglich in Aleida Assmanns Begriff von Tradition finden. Er sehe Tradition als Entscheidungsprozess und Identitätsressource an. Stadt werde in den Geschichtswissenschaften vor allem als Siedlungskontinuität gefasst, wobei jeweils zwischen Stadtgeschichte oder Sozialgeschichte in der Stadt unterschieden werden sollte. Gantners Auseinandersetzung mit jüdischem Erbe in mittel- und osteuropäischen Städten warf die Frage auf, welche Gruppen wie mit jüdischem Erbe umgehen. Hier schließe sich eine Kritik an lineare stadtgeschichtliche Arbeiten an, die historische Wechselwirkungen zwischen städtischen Minderheits- und Mehrheitsgesellschaften übersehe. Der Archäologe STEFAN ALTEKAMP (HU Berlin) sprach in seinem Vortrag über Besonderheiten einer Archäologie im städtischen Kontext. Altekamp hielt fest, dass in europäischen Städten ein starkes Erhaltungsinteresse archäologischer Funde bestehe. Archäologische Fundstellen würden in den städtischen Raum integriert werden. Altekamp bezeichnete die Archäologie als Nutznießer der Festivalisierung der Stadtpolitik. Die Erhaltung archäologischer Funde in der Stadt könne neue, im öffentlichen Raum sichtbare, stadthistorische Narrative etablieren. Dennoch bleibe die Archäologie eine Objektwissenschaft, deren Kompetenz vor allem in der Bergung, Deutung und Erhaltung von Relikten liege. Für die europäische Ethnologie, so MARKUS TAUSCHEK (Kiel), bezeichne der Begriff Kulturerbe vor allem Praktiken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Dabei werde gefragt, wie Kulturerbe zu einer ökonomisch/politischen Ressource in Aushandlungsprozessen werde. Städte seien in der Ethnologie vor allem Orte, an denen Aushandlungen über Kulturerbe stattfinden würden. Aus ethnologischer Perspektive seien zentrale Forschungserbnisse insbesondere im Bereich der Kulturerbe-Werdung anzusiedeln. Abschließend kritisierte Tauschek den ökonomischen/politischen Fokus der ethnologischen Kulturerbe-Forschung sowie die Fixierung auf UNESCO-Stätten. Die Ethnologie solle Vergegenwärtigungspraktiken auch im alltäglichen Handeln betrachten und der Frage nachgehen, wie urbane Räume die Erfahrung von Kulturerbe strukturieren würden.
In der anschließenden Diskussion lenkte BODO VON BORRIES (Hamburg) die Aufmerksamkeit auf mehrere Spannungslinien, die Heritage-Konzepten innewohnen. Eine erste Linie fragte nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn von Erbe-Konzepten. Es wurde diskutiert, ob begrifflich schärfer zwischen verschiedenen Zugriffsmodi auf Vergangenheit (z.B. history und heritage) unterschieden werden solle. Angesichts der Komplexität des Feldes sei aber weder eine Vereinheitlichung der Terminologie noch eine weitere Ausdifferenzierung der Begriffe anzustreben. An dieser Stelle wurde die Unterscheidung zwischen Heritage als analytischem Konzept und Heritage als heterogenem Forschungsfeld deutlich. Zweitens wurde das Verhältnis von alltäglichen und kanonisierten Vergegenwärtigungspraktiken debattiert, die beide in einem Erbe-Konzept zu integrieren seien. Urban Heritage als empirisches Forschungsfeld gewinne dabei an Bedeutung, da Kulturerbe in der Stadt für breite Bevölkerungsschichten konkret erfahrbar werde. Hier ließen sich Effekte von der Demokratisierung und/oder Vermarktlichung von Kulturerbe erforschen. Alles in allem wurde die Ansicht vertreten, dass das empirischen Forschungsfeldes Urban Heritage mit einem flexiblen Begriffs- und Methodenkoffer zu bearbeiten sei.
 
Der dritte Themenbereich des Workshops widmete sich den Kulturwissenschaften, dem Tourismusmarketing und der Soziologie. REGINA BITTNER (Dessau) berichtete aus dem Bereich der Kulturwissenschaften und ihrer Praxis als Kuratorin bei der Stiftung Bauhaus Dessau. Erbe werde in den Kulturwissenschaften vor allem über den Begriff des kulturellen Gedächtnisses konzeptualisiert. Besonderes Augenmerk liege dabei auf den Repräsentationen des Gedächtnisses und der performativen (Wieder-)Vergegenwärtigung von Vergangenem. Den Zusammenhang zu Stadt sah Bittner vor allem im Bereich der City Images und dem Stadtmarketing. Hier würden gezielt die imaginären, aus Erfahrungen gewonnen, Bilder von Stadt aufgriffen und vermarktet. Zudem skizzierte Bittner die Bedeutung von Geschichte/Erbe im Leitbild der europäischen Stadt. Mit dem Bereich Marketingforschung wechselte ANJA SARETZKI (Lüneburg) in die Sprache der Betriebswirtschaftslehre. Kulturerbe werde hier als monetärer Vermögenswert und Standortfaktor betrachtet. Die Auseinandersetzung mit Kulturerbe konzentriere sich auf dessen Inwertsetzung. Das Erleben der Stadt sei in der Marketingforschung ein Produkt, welches an bestimmte Zielgruppen verkauft werde. Dabei werde Tourismusmarketing selbst zum Produzenten von Erbe. Forschungsergebnisse der Marketingforschung würden, laut Saretzki, im Bereich des Erlebens von Kulturerbe liegen. Allerdings merkte Saretzki kritisch an, dass im Tourismusmarketing kein Diskurs über den Begriff Heritage stattfinde. In der Soziologie betonte SYBILLE FRANK (TU Berlin) den aktuellen Mangel eines originären Heritage-Konzepts. Der Begriff Kulturerbe werde hier als Medium der Bedeutungsproduktion und -zuschreibung bedeutsam. Da Heritage in der Regel als staatliche Domäne angesehen werde und Stadt als eigenständiger soziologischer Gegenstand aktuell umstritten sei, bleibe das Verhältnis von Heritage und Stadt nur wenig untersucht. Zentrale Forschungserkenntnisse sah Frank im Anwachsen der Produzenten- und Konsumentengruppen von Heritage. Dies werde insbesondere für Städte relevant, da Kulturerbe oft nur lokal konsumiert werden könne. Frank bezeichnete Touristen als neue pressure group der Kulturerbe-Produktion. Offene Fragestellungen würden sich für Frank aus einer Übertragung wissens- und raumsoziologischer Ansätze auf das Feld ergeben.
In der anschließenden Diskussion betonte GISELA WELZ (Frankfurt am Main) die Vervielfältigung des Zugriffs auf Vergangenheit. Die Menge der Diskurse um Heritage in der Stadt ließe sich angesichts der wachsenden Touristenströme und Anspruchsgruppen nicht regulieren. Im Anschluss wurde eine Reihe neuer Forschungsfragen besprochen. Fragen zur Untersuchung des Konsums städtischen Erbes bildeten einen Schwerpunkt der Debatte. Dabei kam das Verhältnis von locals und non locals zu Heritage-Stätten zur Sprache. Des Weiteren ließe sich nach der Einbettung von Kulturerbe in touristische Narrative fragen. Die Konsumentengruppen könnten zudem nach sozialstrukturellen Kategorien untersucht werden. Des Weiteren ließe sich fragen, welche Erwartungen und Anforderungen an Heritage-Stätten von Konsumenten und Konsumentinnen gestellt werden und wie das konkrete Erleben von Heritage im städtischen Raum funktioniere.
 
Der Workshop verdeutlichte die enorme Bandbreite des Forschungsfeldes. Der Austausch und die wechselseitige Vervollständigung von empirischen sowie theoretischen Bezügen in den einzelnen Disziplinen bildeten den Schwerpunkt der Veranstaltung. Die Zusammenführung der Beiträge zeigte, dass diese Aufgabe noch nicht abgeschlossen ist. Ansätze beispielsweise aus der Literatur- und Musikwissenschaft sollten in Zukunft ebenfalls Berücksichtigung finden. Die Diskussionen offenbarten zudem begriffliche Schwierigkeiten, die sich aus der Vielfalt der Forschungsbezüge ergaben. Einerseits strebe die Heritageforschung nach einer Fokussierung der Begriffe, um sich eine gemeinsame Arbeitsgrundlage quer zu den Disziplinen zu schaffen. Andererseits bedürfe es weiterhin einer facettenreichen, der Komplexität des Gegenstands angemessenen Begriffslandschaft. Die Debatten des Workshops versuchten beide Momente zu berücksichtigen. Die einzelnen Beiträge skizzierten die zahlreichen Verbindungen von Stadt und Heritage. Urban Heritage sei damit vor allem als vielfältiges, empirisches Forschungsfeld, aber auch als konkretes Handlungsfeld zu verstehen. Dabei müsse jedoch zwischen der Untersuchung von Heritage im städtischen Kontext und der Betrachtung von Stadt als Heritage unterschieden werden. Zum Abschluss formulierte der Workshop mehrere Entwicklungspfade für eine weitere Auseinandersetzung mit Urban Heritage. Zunächst müsse der Widerspruch zwischen objektbezogenen und konstruktivistisch orientierten Heritageansätzen abgebaut werden. Gleichzeitig wurde dazu aufgerufen, sich kritisch mit dem Begriff intangible heritage auseinanderzusetzen. Zusätzlich wurde eine stärkere Berücksichtigung transkultureller Bezüge vorgeschlagen.
Urban Heritage wurde von allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Workshops als äußerst spannendes Forschungsfeld angesehen, in dem gesellschaftliche Trends der Gegenwart (v.a. im Bereich Tourismus, Stadtentwicklung und Inklusion) ineinandergreifen würden.

KONFERENZÜBERSICHT
Begrüßung
Block I: Architektur, Kunstgeschichte und Geographie/Raumplanung
Heike Oevermann (Architektur, Georg‐Simmel‐Zentrum für Metropolenforschung, HU Berlin)
Gabi Dolff‐Bonekämper (Kunstgeschichte/Denkmalpflege, TU Berlin)
Achim Prossek (Geographie und Raumplanung, HU Berlin)
Diskussion und Impuls: Johannes Cramer (Architektur/Denkmalpflege, TU Berlin)
Block II: Geschichtswissenschaft, Archäologie und Ethnologie
Eszter Gantner (Geschichtswissenschaft, HU Berlin)
Stefan Altekamp (Archäologie, HU Berlin)
Markus Tauschek (Europäische Ethnologie, Universität Kiel)
Diskussion und Impuls: Bodo von Borries (Geschichtsdidaktik, Universität Hamburg)
Block III: Kulturwissenschaften, Tourismusmarketing und Soziologie
Regina Bittner (Kulturwissenschaften, Stiftung Bauhaus Dessau)
Anja Saretzki (Tourismuswissenschaft, Universität Lüneburg
Sybille Frank (Soziologie, TU Berlin)
Diskussion und Impuls: Gisela Welz (Kulturanthropologie, Universität Frankfurt am Main)
Zusammenführung der Beiträge: Was ist Urban Heritage?