Georg Simmel_Stadtforschung

Symposium und Publikation

Georg Simmel ist für die heutige Stadtforschung sowohl aktuell als auch relevant. Dies zeigt das Buch Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung, herausgegeben von H.A. Mieg, A. O. Sundsboe und M. Bieniok im VS Verlag 2011. Der darin erschienene Beitrag von Heike Oevermann trägt den Titel: Erhaltung und Transformation von architektonischem Kulturerbe: Welterbediskurs und planerische Praxis auf Zeche Zollverein (277-297).
Das Buch ist im Anschluss des von der Thyssen Stiftung geförderten Symposiums „Simmel und die Stadt – ein interdisziplinärer Austausch“ entstanden. Das Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung an der Humboldt-Universität (GSZ) hatte für den 27. und 28. 11. 2008 eingeladen. Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen, insbesondere auch Nachwuchswissenschaftler, diskutierten an den zwei Tagen die Bedeutung Simmels für die heutige Stadtforschung. Aktuelle Forschungsarbeiten wurden einer interessierten Fachöffentlichkeit hinsichtlich ihrer Bezugspunkte zu Georg Simmels Werk vorgestellt. Die Themenvielfalt reichte von der Auseinandersetzung mit der Rolle der Individuen in der Großstadt über gesellschaftliche Prozesse, u.a. der Segregation, bis hin zu Fragen zu den geplanten und gebauten Räumen der Stadt.

Das „Experiment“
Die Veranstaltung wurde von der Graduate Studies Group (GSG) des GSZ organisiert, eine selbstorganisierte Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern, die an unterschiedlichen Forschungsprojekten im Bereich Stadtforschung arbeiten. Die GSG erhielt dabei Unterstützung von Prof. Harald Mieg, der die Schirmherrschaft für die Veranstaltung übernommen hat.
Aufgrund der Komplexität, die entsteht, wenn unterschiedliche Forschungsansätze und Methoden aufeinander treffen, wurde mit einem ungewöhnlichen Konferenzformat ein interdisziplinäres Experiment gewagt. Die Vorträge sollten nicht nur mit einem interessierten Publikum diskutiert, sondern zuvor durch eingeladene und erfahrene Forscher, meist Vertreter anderer Disziplinen, gezielt beleuchtet werden. Die vorgestellten Fragestellungen aus der Stadtforschung, ihre Untersuchungsansätze und möglichen Ergebnisse wurden so unmittelbar interdisziplinär kontextualisiert und in diesem Rahmen durchaus unterschiedlich bewertet. Gerade die Betrachtung einer Forschungsfrage aus unterschiedlichen Blickrichtungen zeigte, dass die gedankliche, aber sehr konkrete Konfrontation mit den anderen Disziplinen eine neue Reflexionsebene erzeugte, von der jede Arbeit profitieren konnte. Deutlich wurde aber auch, dass die Erkenntnisse in der Stadtforschung extrem abhängig sind von Fokussierung und Methodologie. Max Webers Gedanken zur „Objektivität in den Sozialwissenschaften“ wurden so anschaulich.

Themen der Stadtforschung
Herr H. Häußermann (Berlin) gestaltete mit seinem Vortrag den Auftakt am Donnerstagabend. Simmel, so wurde deutlich, musste aufgrund seiner essayistischen Schreibweise und seinem vielseitigem Themeninteresse bereits zu Lebzeiten, und bis heute, viel Kritik einstecken. Umso bedeutsamer erscheinen die aktuellen Auseinandersetzungen, die versuchen, die eigene Forschung in Überschneidung mit Georg Simmel zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund wurde der Freitag durch zwei Vorträge eingeleitet: „Empirische Befunde zur Aktualität von G. Simmel“ (M. Bieniok, Berlin) und „Die Berliner Kastanienallee als kreatives urbanes Milieu“ (J. Merkel, Berlin). Im ersten Vortrag wurde deutlich, dass aus psychologischer und insbesondere empirischer Sicht, die Merkmale einer Großstadt, die Simmel beschrieben hat, bis heute in den Köpfen der Bewohner von Berlin, Paris und London prägnant und charakterisierend für ihre Städte geblieben sind. Der zweite, soziologisch orientierte Vortrag interpretierte eine wichtige Erkenntnis aus der Beobachtung der Kreativwirtschaft in Berlin (Kastanienallee); nämlich die enge Verknüpfung von physischem Raum und sozialem Milieu, entsprechend Simmels theoretischer Vorstellung der Wechselwirklungen zwischen Raum und Individuum.
Nach diesem Auftakt wurde parallel in zwei thematisch unterschiedlichen Panels gearbeitet – „Die heterogene Großstadt: geprägt durch soziokulturelle Grenzen“ und „Aneignung, Transformation und Steuerung von Räumen“. Vorgestellt und moderiert wurden die Panels von Herrn H. Mieg (Berlin) und Frau C. Hannemann (Berlin).

Die heterogene Großstadt: geprägt durch soziokulturelle Grenzen?
Panel 1 widmete sich am Vormittag der Armut (J. Blasius, Bonn), der Idee des Plug-In-Citizenships (K. Nawratek, Plymouth) sowie dem Thema der Gentrifizierung in Verbindung mit schrumpfenden Nachbarschaften (F. Koch, Berlin). H. Delitz (Dresden) betonte mit der Interpretation von Simmels Soziologie als eine „Soziologie der Haut der Gesellschaft“ die zentrale Bedeutung der bebauten Umgebung als Ausdruck der symbolischen Gestalt der Gesellschaft sowie als konstituierenden Faktor für soziale Ungleichheit. Am Nachmittag wurden im Panel 1 die Parallelgesellschaft und Formen des Zusammenlebens (W.-D. Bukow, Köln) diskutiert sowie die Folgen der Segregationsprozesse nach ethnischer Zugehörigkeit, insbesondere in Bezug auf stigmatisierende Diskurse (A. O. Sundsboe, Berlin/ Oslo).
In allen Beiträgen wurde der enge Zusammenhang zwischen städtischen Strukturen und sozialen Interaktionen, jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven, gezeigt. J. Blasius erinnerte mit seinem Beitrag an die Kontinuität der Armut aus einer geschichtlichen Perspektive und bezog sich dabei auch auf Georg Simmels Positionen zur Wechselwirkung zwischen Armen und Reichen. So präsentierte er die Kooperation – die Unterstützung der Armen durch die Reichen – als eine notwendige Voraussetzung für gesellschaftliche Stabilität. K. Nawratek stellte die Ein- und Mitwirkung „temporärer“ Bürger, etwa Touristen, Arbeitnehmer auf Zeit, Studenten, auf städtische Systeme (Wirtschaft, Kultur, Bildungsinstitutionen etc.) dar. Ein Ansatz, der als Herausforderung für das nationalstaatliche Bürgerschaftsverständnis gilt. F. Koch zeigte mit dem Blick auf die Wohnsituation und mit Hilfe des Gentrification-Konzeptes, wie ganze Wohnraumstrukturen durch soziale Interaktion und durch Handeln einzelner Akteure sich verändern können (am Beispiel Berlin Prenzlauer Berg). Dies wurde auch im Beitrag von A.O. Sundsboe aufgegriffen, in dem die Relevanz ethnischer Grenzziehungen für die soziale Zusammensetzung der Wohnbevölkerung in Großstädten thematisiert wurde. Hier kam insbesondere das Verständnis Georg Simmels von Städten als Abbild gesellschaftlicher Entwicklungen, als „eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1903), zur Geltung. W.-D. Bukow ging in seinen Ausführungen darauf ein, dass das Denken in binären Konstruktionen – basierend auf einen Nationalismus, der die Bevölkerung etwa in „In-„ und „Ausländer“ aufteilt – längst überholt ist. Vielmehr müssten biographische Informationen in die Forschung über das Agieren der Individuen „zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit“ einfließen.

Aneignung, Transformation und Steuerung von Räumen

Das Panel 2 wurde thematisch durch epistemologische Überlegungen und aktuelle Anmerkungen zu Norditalien (S. Custoza, Mailand) eingeleitet. Im Vortrag wurde in Anlehnung an Simmel und Kant herausgearbeitet, dass die Objekte des Erkennens, und damit auch der Raum, durch das Subjekt produziert werden. Die folgenden Auseinandersetzungen über den Erhalt und die Transformation architektonischen Kulturerbes am Fallbeispiel Zeche Zollverein griff diese epistemologischen Aspekte mittels des Kulturbegriffs von Simmel wieder auf. Dabei zeigte H. Oevermann (Berlin), dass Kulturerbe von Subjekten produziert wird, die im konkreten Umgang mit der überlieferten baulichen Substanz Transformationen des Raums und seiner gesellschaftlichen Bedeutung erzeugen. Der Vortrag über Form und Raumtypologie (K. Noack, Berlin / S. Günzel, Potsdam) erinnerte daran, dass architektonische Elemente schon in ihrer Typologie eine Metaebene aufweisen. Form folgt somit nie immer nur einer Funktion. Am Nachmittag wurde zunächst die Bedeutung des Individuums in der Planung eines Hamburger Bildungszentrums (N. Hälker, Hamburg/ K. Wildner, Frankfurt a.d. Oder) dargestellt. N. Hälker zeigte an dem Projektbeispiel IBA Wilhelmsburg, dass schon die Anfänge der Planungsprozesse für städtische Bildungsräume eine grundlegende Beteiligung der Bürger zu verpassen drohen. Hinterfragt wurde damit auch das Demokratieverständnis, das in solche Prozesse hineinwirkt. Abschließend wurden Überlegungen zu den Repräsentationen der Metropole Berlin im Film präsentiert (A. Dücker, Aberdeen/ Heidelberg). Herausgearbeitet wurde hier, dass gerade der Film ein Medium darstellt, der die dynamischen Wechselwirkungen zwischen Raum und Individuum aufgreifen und auch veranschaulichen kann.
Während der zwei Tage wurden, begleitend zu den Vorträgen, zehn Forschungsarbeiten verschiedener Teilnehmer in Form von Postern und Buchpräsentationen ausgestellt. Diese boten eine einmalige Gelegenheit mit Experten bzw. weiteren Doktoranden ins Gespräch zu kommen und sich auszutauschen. Dafür war das Interesse groß, lediglich die Zeit dafür wurde als etwas knapp befunden, welches allerdings auch als ein Erfolg der Veranstaltungsform interpretiert werden kann.

Schlussdiskussion: Simmels Aktualität
Die abschließende Diskussion fragte, ob Simmel heute aktuell bzw. relevant sei. Nach den diskursiven Debatten wurde dies ungewohnt einhellig bejaht. Doch zeigten die Präsentationen und Debatten in den Panels auch, dass durch das Werk von Georg Simmel kaum eine verbindende theoretische Basis für unterschiedliche Arbeiten der Stadtforschung hergestellt werden kann. Simmels 150. Geburtstag war ein guter Anlass, um diese Form des wissenschaftlichen Austauschs zu initiieren.


Bericht von: N. Hälker, H. Oevermann/ A. Sundsboe